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Shiatsu für Autismusbetroffene

Autismus ist eine angeborene Entwicklungsdiversität. Betroffene nehmen ihre Umgebung anders wahr und haben in der Kommunikation und Interaktion mit anderen Menschen Schwierigkeiten. Wenn die autistischen Merkmale sehr ausgeprägt sind, beeinträchtigen sie die Entwicklung eines Kindes massgeblich. Wie in einem solchen Fall KomplementärTherapie eingesetzt werden kann, zeigt der folgende Erfahrungsbericht einer Shiatsu-Therapeutin.

02.04.2024


child hiding his face behind fingers

© Adobe Stock

Im Juni 2017 wurde ich von der örtlichen Stelle der französischen Organisation AEVE, die sich für autistische Kinder einsetzt, kontaktiert. Die Anfrage war, ob ich für einen Versuch bereit war, Ghalia, ein achteinhalbjähriges autistisches Mädchen, welches nicht eingeschult werden konnte, mit Shiatsu zu begleiten. Ich nahm das Angebot trotz meiner geringen Kenntnisse über Autismus an. Alle involvierten Personen waren darüber informiert, dass wir gemeinsam einen Versuch unternehmen würden, um herauszufinden, ob Shiatsu Ghalia unterstützen könnte.

Autismus-Spektrum kurz erklärt

Autismus ist eine neurologisches Phänomen, das heute immer besser diagnostiziert werden kann. Die Erscheinungsformen sind vielfältig und reichen vom hochbegabten Genie bis hin zur tiefgreifenden geistigen Entwicklungsstörung. Die gemeinsamen Auffälligkeiten bei allen Betroffenen sind Beeinträchtigungen der sozialen Beziehungsfähigkeit und der Kommunikationsfähigkeit sowie Spezialinteressen, die einen restriktiven und repetitiven Charakter aufweisen. Man nennt dies auch die Triade der autistischen Beeinträchtigungen [1].

Die erste Begegnung mit Ghalia

Als wir uns zum ersten Mal trafen war Ghalia achteinhalb Jahre alt. Ghalia ist von schwerem Autismus betroffen, zeigt ein nonverbales Verhalten und leidet an einer geistigen Entwicklungsbeeinträchtigung. Ihr geschätztes geistiges Entwicklungsstadium entsprach zu jener Zeit dem eines Kindes im Alter zwischen 18 und 24 Monaten. Ausser «Papa» und «Mama» konnte sie nichts sagen, sie trug Windeln und war auf Unterstützung bei allen alltäglichen Verrichtungen angewiesen, wie etwa beim Anziehen oder bei der Körperpflege. Ihr Vater begleitete sie, ein rauer und zugleich sanfter Mann, zärtlich aber auch schroff, der seine Tochter jedoch über alles liebte. Er litt an Narkolepsie, weshalb er nicht arbeiten konnte. Er kümmerte sich um Ghalia, wenn sie nicht von der Organisation AEVE betreut wurde.

kid

© unsplash

Unvorhersehbarkeit im Hier und Jetzt

Der erste Kontakt mit Ghalia hatte für mich etwas Unvorhersehbares. Und ich glaube, das ist das Schlüsselwort, welches im Umgang mit Menschen im Autismus-Spektrum einen speziellen Platz einnimmt: die Unvorhersehbarkeit. Man mag vielleicht in vielen Bereichen Kompetenzen entwickelt haben und komplexe Konzepte und Sachverhalte verstehen und beherrschen. Im Umgang mit Menschen mit Autismus nützt einem das jedoch wenig. Warum ist das so? Weil ihnen das alles egal ist. Sie sind ganz im Hier und Jetzt oder aber gefangen in ihrer eigenen Welt. In jedem Fall hat die autistische Person eine besondere Beziehung zur Gegenwart.

Gedanken zur therapeutischen Erfahrung

Die Begegnung mit Ghalia brachte mich so aus der Fassung, dass ich mich hinterher an meinen Computer setzen musste, um niederzuschreiben, was gerade passiert war. Sie war drauf und dran gewesen, mein Handdesinfektionsmittel zu trinken, meine Kleenex zu essen und hätte fast die Klinke meiner Praxistür abgebrochen. Sie schrie oft, schlug ihre Begleitpersonen und warf ihre Kleider quer durch den Raum. Nachdem sie gegangen war, fühlte ich mich, als hätte mich gerade ein 3,5-Tonnen-Lastwagen überrollt. Ich musste meine Gedanken ordnen und mich systematisch an jeden einzelnen Moment erinnern. Denn irgendwann hatte ich es geschafft, einen körperlichen Kontakt mit ihr herzustellen.

Vorurteile fallen lassen

Mir wurde klar, worauf ich mich eingelassen hatte. Ich würde alles, was ich wusste, vergessen müssen, sämtliche Vorurteile fallenlassen und mich auf das einstimmen, was sie mir von Mal zu Mal anbieten würde. Das Niederschreiben des Geschehenen sollte jeweils eine Spur dieser Momente hinterlassen, die nichts mit meinem geordneten Alltag gemein hatten. Ich machte mir diese Notizen zur Gewohnheit und konnte so die Erfolge und auch die Irrtümer unserer Arbeit festhalten und verstehen[2].

Fortschritte dank Shiatsu?

Die wertvollsten Momente, die ich von dieser fantastischen Erfahrung mitnehme, sind die Fortschritte, die Ghalia in ihrem Alltag machte. Es wäre vermessen, diese einzig dem Shiatsu zuzuschreiben, denn mit fortschreitender Zeit entwickeln sich Kinder ja auch weiter. Aber wie durch Zufall gewann sie nach einigen Shiatsubehandlungen in gewissen Bereichen ihres Lebens an Autonomie, insbesondere bei der Körperpflege. Es wurde sogar möglich, ihren Rücken zu berühren, was sie bis anhin immer abgelehnt hatte. Vermutlich hat Shiatsu durch die sorgfältigen Berührungen Einfluss ausgeübt. Und wie es Geneviève Haag, eine französische Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin, die sich auf Kinder mit Autismus spezialisiert hat, ausdrückt: „Wenn der Rücken nicht gestärkt wird, kann der Blick nicht ruhen.“[3] Ohne Blickkontakt fehlt dem Kind ein Werkzeug, um mit der Aussenwelt in Beziehung zu treten. So bleibt es in seiner eigenen Welt gefangen. Diese bietet ihm zwar Sicherheit, ist aber auch beengend.

© Associazione Svizzera di Shiatsu

Der Kern der Aufgabe

Wie können wir diesen Menschen aus ihrem geschlossenen Raum hinaushelfen? Ein Refugium, in das sie sich zurückziehen, wenn die Aussenwelt zur Überforderung wird. Wie können wir sie motivieren, sich zu beteiligen?

Es scheint, dass KomplementärTherapie - im beschriebenen Fall Shiatsu - wunderbare Werkzeuge bietet, um einen Raum für Begegnung zu schaffen. Über die wohlwollende Berührung wird eine Sinneswahrnehmung angesprochen, welche für diese Menschen nicht immer ganz einfach einzuordnen und zu leben ist. Im Shiatsu legt sich die Hand sanft auf den Körper und der Blick senkt sich. Die Absicht ist, einfach da zu sein, wertfrei, ohne etwas zu erwarten, ganz im Moment, um einen Austausch in der Ganzheit des Seins zu ermöglichen.

Jeder Augenblick ist kostbar

Ein weiterer Schlüssel liegt in folgender Erkenntnis: Jeder Augenblick ist kostbar. Wenn das Kind einem dann doch mal in die Augen blickt, um zu zeigen, dass es bei einem ist, ist dieser Moment zwar kurz, aber von seltener Intensität. Und vielleicht schenkt einem das Kind, das sich eben noch so wild gebärdete, sogar eine Umarmung. Dies wäre das schönste, aufrichtigste und wahrhaftigste Geschenk, das es machen könnte. Diese Kinder erinnern uns an das, was wirklich wesentlich ist. Danke an sie für das, was sie sind, und ein grosses Lob und viel Kraft an die Familien und Fachkräfte, die sie jeden Tag begleiten.

Autore:

Nathalie Bernardinelli, Shiatsu-Therapeutin aus Poissy (F)

Der Artikel ist erstmalig im Blog der Shiatsu Gesellschaft Schweiz erschienen, www.shiatsuverband.ch

Fonti:

[1] Diagnostisches und statistisches Manual psychischer Störungen DSM-5, American Psychiatric Association, Hogrefe Verlag, 2018

[2] Ich habe eine Dokumentation der ersten 21 Behandlungen, die ich Ghalia zwischen September 2017 und November 2018 gegeben habe, in Buchform veröffentlicht. La

Bulle et le Pouce, 2019, Actéa Santé Éditions: https://www.unitheque.com/la-bulle-pouce/herve-eugene/Livre/141959

[3] HAAG G., TORDJMAN S., DUPRAT A. et col., Grille de repérage clinique des étapes évolutives de l’autisme infantile traité, psychiatrie de l’enfant, vol 38, n°2 P 495-527, 1995


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